Fremd

Ich laufe durch die Straßen und sehe Momente, die nur das Leben schreibt, eine übergeordnete Fantasie, die alles beflügelt. An einer Hausfassade. Unser Leben. Davor ein kleines Kind, das sich abwendet und einem Vogel hinter dem Stacheldrahtzaun hinterherschaut. Allein. Kaum schaue ich hin, wendet sich das Kind ab, fliegt der Vogel davon und der Moment ist vorbei, vergessen, nie passiert. Wenn ich aus dem Fenster schaue, dann steht an der Wand geschrieben: Das Leben ist eigentlich schön. Was mir im Moment die zutreffendste Aussage zu sein scheint. Dinge passieren, sind nicht abwendbar, man könnte fast so weit gehen und anfangen, an das Schicksal zu glauben. Es passieren mancherlei Unglaublichkeiten, einfach so, ohne nachzufragen. Ich ergebe mich dem Fluss der Möglichkeiten und lasse mich treiben, plane nicht zu fest oder eigentlich gar nicht und richte mich selbst nach den Umständen aus. Es ist eine Zeit der ständigen Veränderung, man kann sich auf nichts verlassen außer auf die Tatsache, dass man sich auf absolut nichts verlassen kann. Das Leben entbehrt nicht einer gewissen Skurrilität, einer Selbstironie, der es zu trotzen, die es auszunutzen gilt. Das Kind schaut durch einen Stacheldrahtzaun einem Vogel hinterher, der frei ist, sich zu bewegen wohin er will, und der sich ausgerechnet hinter diesem Zaun niederlässt. Das Kind schaut durch die Begrenzung hin zum freien Vogel und ist selbst der eigentlich Eingesperrte von Beiden. Der Vogel fliegt, das Kind sieht, die Mutter winkt – hektisch, unwirsch. Das Leben geht weiter. Unser Leben.

Über die Brücke in die Altstadt. Pelzträgerinnen mit kühl-kalkuliertem Blick. Hipster-Typen mit blasierten Mienen in Kneipen, das Macbook vor der Nase und diese einen Hauch erhoben, gespenstische Leere in den Blicken, alles Fassade. Der Atem nebelt unberührt von dannen, der Winter lacht mich an und ich schau kalt zurück, Waffenstille. Entgegen aller Vermutung: Weihnachtliche allumfassende Frohsinnlichkeit. Die Schaufenster lügen mich an und ich würdige sie keines Blickes. Seit August lancierte Schokoladennikolausbestände in sämtlichen Kaufhäusern. Nuss-Nougat, Zartbitter, mit oder mit ohne Milch, Weiß, Schwarz, Cremig-Krümelig. Verheißungsvoller Schokoladengenuss, der das lautstarke winterdepressionsbedingte Trübsalblasen übertönt.

Das Leben ist eigentlich schön.

In anderen Ländern herrscht gerade Krieg. Aber die Welt interessiert nicht beim Anblick der süßen Träume, die sich wie Luftschlösser auftürmen, bedrohlich, in sich zusammenstürzen. Komische Zeit, es liegt noch nicht mal mehr Schnee und man soll sich auf das alljährliche Keksebacken freuen, auf eine Familien-Transaktion, bei der die Verwandten wie zu heiße Steine herumgereicht werden. Allerdings: Man muss es genießen, so lange man die Möglichkeit hat. Der Wahn der Perfektion hindert einen schlussendlich ja sogar daran, so etwas banales wie Freude zu empfinden. Man muss schön sein, sportlich, ein Familienmensch, großzügig. Man darf sich nichts gönnen. Man muss dran glauben, nur nicht so genau sagen an was, denn man muss auch aufpassen, zu genau zu wissen, was man will - denn: Egoismus ist einfach nicht geil. Ich empfinde also einen gewissen Grad zynischer Freude bei dem Gedanken, dass ich mich gerade freue, und bin mir dem subversiven Charakter dieses Tatbestandes wohl bewusst. Ich genieße. Was du genießt? Ich genieße. Ich lebe. Ich trinke genussvoll ein zu volles Glas Rotwein. Ich rauche zu viel und bin zu selten zu Hause. Ich verlasse Orte, die mir nicht mehr das geben, was ich von ihnen erwarte und manchmal verletze ich Menschen, die ich liebe, in bestem Wissen und Gewissen. Ich bin ein Mensch. (Und nichts Menschliches ist mir fremd.) Ich weiß um die Verpflichtungen, die ich mir selbst auferlege, aber missachte sie. Du bist ein Egoist! Na gut, ich gebe zu, dass ich hin und wieder egoistisch bin. Aber ich erlaube jedem, meinen Egoismus zu teilen. Ich erfreue mich sogar daran. Man muss doch oft mit Erschrecken feststellen, dass es tatsächlich Menschen gibt, die sich zu sehr von äußeren Umständen diktieren lassen, deren Leben eigentlich nur eine gelebte Farce ist, die irgendwann unterwegs vergessen, wofür sie tun, was sie da tun. Ich weiß selbst eigentlich nicht, aus welchem Grund ich tue, was ich tue. Ich studiere, aber ich studiere nicht nur ein Fach, sondern auch einen Lebensstil, ich studiere mein Umfeld, die mich umgebende Welt. Ich bin offen, betrachte mich als anzufüllendes Gefäß. Ich studiere auf jeden Fall nicht, weil ich eine Karriere machen will, um irgendwelchen Kindern ein angenehmes Leben zu bieten und irgendeinem Mann eine gute, intelligente bedarfsorientiert-uninteressierte Frau zu sein. Was ich tue, das tue ich für mich. Du bist ein Schmarotzer! Und ich bin es gern. Ich nutze aus, was ich bekommen kann. Die Vermehrung der eigenen Spezies, wofür soll das gut sein? Es gibt schon so Viele, die den hehren Zielen Anderer hinterherlaufen, und die das Gefühl haben, sie tun es für einen höheren Zweck. Ich bin also stolz auf die Tatsache, dass ich mich amüsieren kann und das Gefühl habe, zu leben. Am Ende – ich spreche tatsächlich vom Ende – kommt es doch darauf an, dass man mit Stolz behaupten kann, gelebt zu haben. Freude empfunden zu haben. Ein Leben kann unglaublich kurz sein. Ein Leben kann unendlich lang sein, wenn man es verkrampft und im Gefühl einer übergeordneten Instanz lebt, der es gerecht zu werden gilt.

Unser Leben

Vorheriger Beitrag | Nächster Beitrag