Ein ungeschriebenes, aber universales Gesetz: Man bekommt das, was man am wenigsten haben möchte
Ich kippe den Kaffee gegen die Kopfschmerzen während ich meine E-Mails durchsehe. Eine Vorahnung. Das Wissen um das auf jeden Fall eintreffende Ereignis. Beim Öffnen der E-Mail. Die leise schwelende Vorfreude zugrunde gerichtet, klick (Öffnen des Dokuments), dann Enttäuschung, der Verdacht, irgendeinem universalen Fehler zu erliegen. Zwei Finger, (Zoom), ist das alles? Das Ding ist verdammt klein. Im Anhang nach einer anderen, der eigentlichen Datei suchen. Wieder Enttäuschung. E-Mail schließen und hoffen, dass man verschont bleibt. Eigentlich ist es egal. Eigentlich geht es mich nichts an, so wie mich gerade nichts wirklich etwas angeht, weil nichts eben so wichtig ist, wie das was eben wichtig ist. In mir regt sich Widerwille. Als ob ich nichts besseres zu tun hätte. Mal wieder so ein Projekt, das mich im Grunde seines Wesens eigentlich kalt lässt. Es gibt doch wichtigere Dinge, und was soll das überhaupt, ich soll mir jetzt Gedanken machen zu etwas, etwas schreiben zu etwas, von dessen Existenz ich bis gerade eben noch nichts wusste. Der Charakter unserer Zeit, die ständig neue Fragen aufwirft und uns mit Antworten überhäuft auf Fragen, die wir gar nicht gestellt haben. Das ist so, als würde ich mich jetzt in eine BWL-Vorlesung setzen. Einfach weil ich es kann. Ich sitze aber nicht in einer BWL-Vorlesung, ich sitze in einem ungelüfteten Zimmer und starre auf ein etwa Briefmarken-großes Surrogat einer mir fremden Wirklichkeit. Subtanzlos. Eine Erscheinung auf einem Bildschirm. Über dessen genaue Funktionsweise ich auch nichts weiß. Er ist vor mir, er leuchtet, ich sehe das Getippte auf diesem Papier-Ersatz. Ich könnte jetzt bei Google nach der Funktionsweise des Bildschirms suchen und würde wieder tausend Dinge herausfinden, die mich ebensowenig interessieren. Zum Beispiel dass Enten Korkenzieher-Penisse besitzen, die sich jedes Jahr neu bilden und je nach Anzahl der Rivalen größer ausfallen. WTF. Draußen scheint die Sonne.
Frenetisches Summen. Eine Fliege krabbelt über meinen Nasenrücken. Sie in meinem Gesicht zu erschlagen sorgt für Kopfschmerzen. Ursprungsloses Dröhnen der Welt „da draußen“, das heißt auf der anderen Seite der durch zwei doppelt-verglaste Fenster unterbrochenen Klinkerwand. Diffus wie der Widerwille beim Erwachen in einer hässlichen Stadt, in einer Umgebung, die mich abstößt. Hundescheiße auf den Straßen. Es riecht nach Döner. Eine Frau unbestimmbaren Alters, Kippe in der Fresse, latscht Kinderwagen-schiebend vorbei. Oben auf dem Dach ficken zwei Tauben. Drüben der Park. Kinder spielen auf der Wiese, hinter den Büschen liegt Spritzenbesteck. Ein alter Türke füttert die Enten im Teich mit Fladenbrot. Die haben deshalb kein einzigen Küken großgekriegt, weil die dadurch angelockten Ratten all die niedlichen Flauschebällchen gefressen haben. Was solls. Die Enten dienen ohnehin nur der Belustigung all der Migranten-Kinder hier im Viertel, die auf den wenigen Quadratmetern nicht vollgeschissener Grünfläche eine Idee von Natur konsumieren. Und, wir leben alle hier. Ein Tip einer Oma an ihre Tochter, neulich im Vorbeigehen gehört, selbst Kinderwagen-schiebend: „Geh doch mal mit deinem Kind in den Wald. Kinder mögen Wald. Wald ist gut für Kinder.“
Irrelevant. Es gibt den übergeordneten Plan, das was mir hier zustößt ist kein Zufall. Ich weiß nicht, was das ist und momentan interessiert es mich nicht. Da sehe ich 3,46 Zentimeter mal 4,37 Zentimeter Datenmüll, die meinen visuellen Kortex beleidigen und mich auf Anhieb abstoßen. Ein Gefühl, bei dem es sich lohnt, ihm auf den Grund zu gehen. Es stellt ein männliches, verfremdetes Gesicht dar. Bei der Auflösung von 72 Bildpunkten ist es unmöglich, es scharf zu betrachten. Es entzieht sich mir, je näher ich es mir anschauen möchte. Es betrifft mich. Ganz weit hineingezoomt nur noch eine Ansammlung quadratischer Kacheln, irgendwie zufällig nebeneinander angeordnet. Die Möglichkeit des digitalen Daseins.Lieblos. Freudlos. Knall-Rot neben Weiß. Die Farbe der Wut. Die Farbe des Aufbegehrens. Die Farbe der Kommunisten. Die Farbe der Leidenschaft.
Dargestellt ist ein Mann, der eine Sonnenbrille trägt und eine irgendwie 80iger-anmutende Frisur. So reduziert, dass nur bestimmte Merkmale erahnbar sind. Aber es bleibt eine Ahnung, verbleibt im Dunkel, vermischt sich mit den bekannten und unbekannten Gesichtern meiner eigenen Imagination. Dennoch behauptet es etwas. Da im E-Mail-Anhang, in seinen leuchtenden schrillen Farben. Klein genug, um eine Briefmarke zu sein, um vielfach reproduziert zu werden. Es wurde ausgesucht und erhält dadurch einen erhaben anmutenden beinahe Werk-Charakter. Es existiert nicht wirklich, und doch ist es da, ich starre es an, und das Betrachtete starrt zurück. Es bleibt ein Phantom, ein Suchbild. Es ist nicht schön. Und will es nicht sein. Es ist kein flämisches Landschaftsgemälde. Es ist keine Mona Lisa. Es ist kein Autobahn-Abfahrt-Schild. Dennoch wird ihm eine Wichtigkeit verliehen, von der ich nicht weiß, ob sie ihm gebührt. Ein entliehener Wert. Damit verschwendet es meine Zeit. Die ich doch so gerne für wichtigere Dinge nutzen würde. Für Dinge die mich erfüllen. Und dafür beginne ich, dieses kleine Ding zu hassen. Für seine Belanglosigkeit. Für die Banalität dieses Augenblicks. Ich könnte draußen sein und die Schönheit der Natur in dieser begrenzten Stadtlandschaft genießen. Ich könnte mit meinem Klapprad über die Hörnbrücke fahren und mich über das Gewäsch der pöbelnden Rentner ärgern. Über Schiffsladungen voller Norweger mit Rollkoffern. Die ich ebenso verabscheue. Einfach weil diese Rollkoffer-Zieher jeden Tag auf‘s Neue den Weg versperren, mir Luft wegatmen, die ohnehin so verpestet ist von den Abgasen der Fähren. Weil die Stadt es nicht schafft, Strom in den Hafen zu legen. Diese verdammte Lieblosigkeit. Ich möchte mir selbst keinen Vorwurf machen, weil ich so hasserfüllt bin. Manchmal tut es gut, in aller Ruhe vor sich hin zu hassen. Und seiner Wut mal ein Gesicht zu verleihen, mal laut aufzuschreien, mal alles rauszulassen. Wir leben in einer weichgespülten Harmonie-süchtigen Welt. Aus handgetöpferten Bechern schlürfen wir Yogi-Tee mit Lebe-Balance-Sprüchen. Bei denen ich kotzen könnte. Ich lasse mir doch nicht von einem verdammten Tee-Beutel erklären, dass der Weg die Kraft ist, das mein Seelenheil in der Geduld liegt. Und dann bekomme ich auf dem Weg zum Yoga eine SMS von meinem Anbieter, in der steht, dass ich noch Guthaben übrig habe, ich soll doch mal wieder mit meinen Verwandten und Freunden in Kontakt treten. Ja wann denn?
Manchmal befällt mich dieser ausgeprägte Zivilisationsekel. Dann wünsche ich mir, wieder in einer einsamen Blockhütte in den Bergen zu leben,von nichts anderem als Tälern und weiteren Berggipfeln und sich dem Himmel entgegenstreckenden Waldstücken umgeben zu sein. Mich abzugrenzen, zu entfernen von der vor sich hin eilenden Maschine, der Gesellschaft. Fernab der Dauerberieselung der Medien. Selbst ein Stück Land zu bestellen, eine Kuh zu melken, der Sonne beim Auf- und Untergehen zuzusehen. Dann liebäugle ich mit der Romantik des Einsiedlertums, sehne mich nach der Erfüllung, die der Erfolg der eigens eingebrachten Ernte mit sich bringen muss. Und vergesse dabei, dass ich selbst dabei genauso Ausdruck dieser nach Selbstverwirklichung schreienden Zeit bin. Vielleicht waren die Menschen früher tatsächlich glücklicher, weil sie überhaupt keine Zeit hatten, ständig wie Helikopter um sich selbst zu kreisen und zu analysieren, was sie in dem Moment des großen universalen Möglichkeiten-Reigens gerade lieber täten. Weil unsere körperlichen Bedürfnisse befriedigt sind, weil wir heute nicht mehr ständig von der Angst erfüllt sind, zu krepieren. Weil wir es uns leisten können. Das heißt wir hier, die im Luxus-gebeutelten Westen leben. Nicht jeden Tag von Bomben, Hunger, verschmutztem Wasser bedroht sind. Auf unserer Seite des Teiches, hinter Sicherheit-heuchelndem EU-Stacheldraht.
Es ist mir ein bisschen peinlich, als ich herausfinde, wen dieses kleine unschuldige Bild in Pommes-Schranke-Farben wirklich darstellt. Das Phantombild Theodore Kaczynskis. Der zwischen 1978 und 1995 in den USA unter dem Namen „Unabomber“ bekannt war, da er 16 Briefbomben an Personen sandte, die er mit modernen Technologien in Verbindung brachte, die für ihn Ursache des Übels der modernen, von der Natur entfremdeten Gesellschaft darstellten. 23 Menschen wurden dabei verletzt und drei starben. Er ist ein Beispiel eines verrückt gewordenen Genies mit einem IQ über 165, den die tiefe Abscheu gegenüber der hektischen Technologie-verliebten Welt in den radikalen Fundamentalismus trieben. Er wollte ein Zeichen setzen, und die Menschen zur Besinnung bomben. Auch er träumte zunächst von einem naturnahen Leben. Als ehemaliger Harvard-Absolvent und Mathematik-Professor kehrte er der Zivilisation den Rücken, lernte in der Wildnis zu überleben und lebte in einer Hütte in den Bergen Montanas. Als er einen seiner geliebten Plätze von einer Straße zerstört sah, beschloss er Rache zu nehmen. Es zeigt, wie nah hehre Ideale, Entfremdung, Selbstüberhöhung und Extremismus beineinander liegen. Hass kann am Endpunkt des rationalen Denkens in den Wahn münden.
Vielleicht brauchte ich diese Erinnerung. Vielleicht brauchte ich das Bild eines hasserfüllten Mannes, um wieder zurückgeholt zu werden in mein eigenes Leben. Mich selbst in einem größeren Kontext zu sehen und nicht mehr allzu ernst zu nehmen. Da sitzt ein vier Monate altes Kind auf meinen Schoß. Meine kleine sich an eine Rolle Tesa-Maler-Klepp klammernde Tochter, die einen riesigen Sabberfleck auf meinem Knie hinterlässt und mir glücklich ins Ohr quietscht. Auch sie schaut gerne den Enten im Park zu. Und dann bin ich dankbar für diesen Moment. Schließlich schlürfe ich selbst Yogi-Tee. Um Barbara zu zitieren: Hass ist krass. Aber Liebe ist krasser.