Das letzte Kind

„Die absolute, endgültige Lösung des Problems „Glück“ haben selbst wir noch nicht gefunden.“

Du wirst es auch mit der Unsterblichkeit versucht haben.

Du wirst Pillen schlucken, die sich in deinem Magen auflösen werden. Du wirst die lebensverlängernden Stoffe in deinem System absorbieren. Du wirst auf Knopfdruck zwischen einem Leben auf Zeit und einer Zeit ohne Leben gewählt haben können. Du wirst sagen, dass du diese Entscheidung noch nicht bereit bist zu treffen, doch bald wirst du der Letzte sein, der sich noch nicht entschieden hat. Schließlich wirst du dem Druck nicht mehr standhalten und weich werden, bevor der Zug abgefahren sein wird. Du wirst gerade noch unsterblich werden, um an deinen Enkeln und Kindern vorbeizuleben, die dir nach einer nicht aufhören wollenden Zeitspanne nicht aufhören werden, zum Hals heraus zu hängen. Du wirst dich von all deinen Frauen geschieden haben, weil sie nicht mehr das gewesen sein werden, was sie noch nie gewesen waren.

„Dass wir einst Kinder zeugten in wilder Lust, ohne Hemmung und Kontrolle“ wirst du sagen und du wirst dich traurig lächelnd an die Zeit zurückerinnern, bevor dir das Kinder-zeugen-Müssen abgenommen wurde, denn wozu werden Kinder noch nützlich sein, wenn auch der Letzte noch nicht gestorben sein wird. Dann wirst du traurig darüber sein, dass es dir verboten sein wird, Kinder in die Welt zu setzen, weil Kinder illegal geworden sein werden, weil ihre Existenz, ihr Wachsen, ihr Reifen, nicht mehr der Normalzustand sein wird. Weil der Mutter bei der Geburt eines solchen Kindes zu große Schmerzen bereitet werden würden, und das Risiko, bei der Geburt unnötig zu sterben, ohnehin als zu groß eingestuft werden wird. Ja, du wirst in einer Gesellschaft leben, in der das Sterben selbst verboten sein wird. In der es keine Krankheiten mehr geben wird. In der Krebs nichts als ein Schalentier, ein Gericht mit Zitrone, ein Sternzeichen sein wird. Längst wird die Pflicht zur Selbsterhaltung Teil des Grundgesetztes sein.

Eines Tages wirst du dich aufmachen zum „Kongress der Letztgeborenen“, auf dem das letztgeborene Kind eine Rede halten wird. Das letzte Kind wird das jüngste Mitglied einer alterlosen Gesellschaft sein. Das letzte Kind wird deinem Nachbarn zum Inbegriff von Jugend und Unschuld, ja der Lebendigkeit selbst geworden sein. Das letzte Kind wird aufstehen, und ohne dass es ein Wort sagt, wird Applaus aufbranden, dem das Kind aber kein Gehör schenken wird. Es wird dastehen und in die Runde blicken, um einen Moment nur innezuhalten, um sich selbst die letzte Ruhe zu verschaffen. Ihr werdet einen Blick austauschen, du und das letzte Kind, und dann wirst du deine Hände in dein Gesicht legen, um dem Verlust der Zeichen deines eigenen Alters nachzuspüren. In deiner Erinnerung werden die Bilder von Greisen auftauchen, die du nur aus Büchern kennen wirst, und du wirst dich fragen, wie sich dein Gesicht wohl verändert haben würde. Das letzte Kind wird deinen Blick spüren und deine Hände beobachten, und auch das letzte Kind wird die Geste verstehen und sich an die letzten Falten erinnern, an die es sich persönlich gar nicht erinnern werden kann.

„Unser Leben ist lang, auch wenn wir es nicht zu gebrauchen verstehen“, wird das letzte Kind sagen. „Ein kleiner Teil meines Lebens nur ist wahres Leben. Mir raubt das Rednergeschäft und die tägliche Pflicht, mein Talent zu gebrauchen bereits jetzt wahrlich meine ganze Lebenskraft.“ Dabei wird es in die Runde blicken und die versammelten Menschen werden es – ein wenig ungläubig vielleicht – anschauen. Du wirst es ansehen, als hättest du einen leibhaftigen Geist gesehen, weil dir in diesem Moment bewusst werden wird, dass in seinen Worten eine grausame Wahrheit liegt. „Mir bietet sich hier der Anblick von lebenden Leichen“ wird es weitersprechen. Denn es wird wissen, dass es alles wird sagen können, denn wo der Tod verboten sein wird, wird es auch keine Todesstrafe mehr geben. „Kein Mensch sichert sich mehr das Recht auf sich selbst.“ Ein Raunen wird sich spätestens jetzt erheben, es wird sich langsam bilden in den allerhintersten Reihen, die sich rühren werden nach langer Zeit des Schweigens. Stühle werden laut verschoben werden, wenn das letzte Kind weitersprechen wird: „Euch und uns allen wird es untersagt, uns selbst anzugehören.“ Dabei wirst du betreten zu Boden schauen, und du wirst dich an die Tage zurückerinnern, als auf deinen Schultern noch die Möglichkeit der Entscheidung lastete. Und in diesem Moment wirst du dir wünschen, die Zeit noch einmal zurückdrehen zu können. Dann wird dir bewusst, dass aus der Unzahl der bereits verstrichenen Momente dieser einer des Handelns sein muss. Du wirst aufspringen, dein Stuhl wird umfallen und alle werden dich anschauen. Der Blick der ganzen Welt wird auf dir ruhen. Dein ganzes, nie gelebtes Leben wird an dir vorbeiziehen und dann wirst du tief einatmen und in die Runde rufen:

„Wie beschränkt ich gewesen bin, nicht eingesehen zu haben, dass dieses Leben ein jahrtausendelanger Selbstmord gewesen sein würde! Mit größter Sorgfalt verhindern wir, dass wir uns zu sehr lieben! Um Kriege zu vermeiden, die längst verboten sind! Töten ist verboten, das Sterben selbst ist verboten worden! Was uns Allen not tut, uns Allen, ist etwas Sterben, dann erst können wir wieder leben! Ich wünsche mir keine Bequemlichkeiten mehr! Wir haben keine Heimat mehr, keine Heimat in der Zeit, keine Grenzen, keinen Boden unter den Füßen. Ich will einen gerechten Gott, ich will Poesie und Leidenschaft, wirkliche Gefahren, die mein Leben bedrohen, einen richtigen Schnupfen, Freiheit und Lasterhaftigkeit, und Lust und Sünde! Ich bestehe hier und heute auf mein Recht auf Unglück, auf Zerrüttung, auf körperlichen Verfall! Ich bestehe auf mein Recht auf Alter und Krankheit, auf langsames Verrotten, auf Mürbe-Werden, hässlich sein, jung sein! Ich fordere ein Leben mit echten Eckpfosten, an denen ihr mein Totenhemd aufhängen könnt! Ich fordere mein Recht auf den Tod zurück! Es lebe der Tod! DER TOD DARF NICHT STERBEN!!!“

Ein lautes Jubeln und Klatschen wird aufbranden, die Menge wird dich zu deiner eigenen Überraschung in die Luft heben, und auf ihren hochgereckten Händen durch den Saal tragen. Die Menschen werden sich wie ein Wesen durch die aufgedrückten Türen schieben und das Wesen wird sich vorwärtsschieben und einen Sturm auf das Lebensverlängerungszentrum auslösen. Tausende werden dem Ruf folgen und die Straßen füllen. Und du wirst ihr Held gewesen sein. Hand in Hand mit dem letzten Kind wirst du die Stufen zum Lebensverlängerungszentrum hinaufgestiegen sein. Die Menschenmasse wird euch gefolgt sein, und durch die Tore ins Innere gebrandet sein. Dort werdet ihr gemeinsam die Medizinausgabegeräte aus ihrer Verankerung gerissen haben, sie aufgebrochen, und die Medizin vernichtet haben. Ihr werdet gelebt haben. Und DU wirst in die Geschichte eingegangen sein, als der Mensch, der den Tod vor dem Aussterben bewahrt haben wird.

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