Auszüge aus meinem Buch "UN_ DA - Reminiszenzen" (2019)
Das UN stellt eine Verbindung mit dem NEIN her.
Das UN stellt sich hin und nimmt das NICHT
an der Hand.
Es ist weder da noch nicht da, zugleich.
Es ist, was nicht nichts ist und doch.
Alle Teile eines Weder-Noch
Zusammengestückelt.
Das Kind hat die Kunst des Hungers beherrscht.
Der Hunger ist nicht körperlicher Natur.
Das Kind hungert nach Leben.
Das Kind springt auf die Bühne des Lebens.
Es wird davon mitgerissen.
Hand in Hand gehen Vater und ich über die Wiese.
Eine kleine Hand wird umschlossen von einer großen
Hand. Sie ist schwielig und rauh. Meine Nase läuft. Mir
ist kalt. Reif bedeckt die Felder.
„Du kannst in meine Hand schnäuben,“ sagt er. Seine
Hand nähert sich meiner Nase. Ich schnäuze hinein. Ich
schaue ihn verwundert an und dann auf seine Hand.
Durchsichtiger Schleim sickert zwischen seinen Fingern
hindurch. Er wischt sie am Gras ab.
Wir klettern über den Zaun auf die andere Seite.
Großmutter erklärt mir, welche Kräuter essbar sind.
„Das ist Vogelmiere.
Das ist Sauerampfer.
Das sind Weidenröschen.
Das ist Scharbockskraut.
Das ist Bockshornklee.
Das ist Hirtentäschel.
Das ist heilkräftig.
Das ist Labkraut.
Das ist Ehrenpreis.
Das ist Spitzwegerich.
Das ist Breitwegerich.
Das ist Schöllkraut.
Das ist Augentrost.
Das ist Lungenkraut.
Das ist Gundermann.“
Das sind die Löwenzähne, die sich im sonnenwarmen
Boden verbeißen. Ich breche einen der Stängel ab und
sauge den bitteren Saft heraus.
„Bitter ist gut“, sagt sie.
Großmutter und ich sitzen am Tisch im Wohnzimmer.
Ich kritzele, sie kreist. Kreist mich ein. Kritzel um Kreis
um Kritzel. Wir füllen sie gemeinsam. Mit Punkten,
Mustern, Strichen. Bogen um Bogen. Wir lachen.
Wenn wir einen fertig haben, steckt sie ihn in unsere Mappe.
Sie sammelt die farbenfrohen Tage.
Vater greift sich ein Huhn heraus, das wild mit den
Flügeln schlägt. Er drückt seinen Kopf unter einen Flügel
und hält es fest. Langsam dreht er es im Kreis herum, es
wird ganz ruhig. Hühner schlafen ein, wenn man ihnen
die Augen zuhält. Neben dem Holzblock steht ein Eimer
mit heißem Wasser. Er legt das schlafende Huhn auf den
Block, greift die Axt und köpft es. Davon wacht es auf. Es
flattert ohne Kopf durch den Garten. Das Kaninchen läuft
hinterher und schlägt Haken.
Mutter rupft dem Huhn alle Federn aus. Ich stochere
in den Eingeweiden herum, die auf dem Boden liegen. Da
ist ein Büschel von Eigelben, wie ein Strauß Blumen mit
immer kleiner werdenden Blüten.
Die Kommode ist groß. Groß und blau. Ich sitze dahinter. Die Rückwand der Kommode ist aus Pressspan. Darüber ein Lattenkreuz. Ich umklammere eine Malkreide und ziehe auf der Rückwand Kreise. Blaue Kreise. Auf der anderen Seite fliegt ein Stuhl krachend an die Decke. Ich beschließe, dass ich kein Kind mehr sein will.
Unten klopft es an der Tür. Mich erreicht das
Gemurmel zweier Männer, meines Vaters, meiner Mutter.
Ihr Schrei reißt mich heraus aus der Nacht. Ich stehe am
Treppenabsatz und rufe nach ihr. Vater kommt zu mir.
„Deine Schwester – sie hatte einen Unfall. Sie hat sich
den Arm gebrochen. Schlaf weiter,“ sagt er.
Am Morgen steige ich hinab in ein verändertes Haus.
Mutter steht im weißen Nachthemd vor mir. Ihre Augen
sind rot und verklebt. Sie wird gehalten von irgendwem.
Ich stehe da, plötzlich im Weg.
„Deine Schwester ist tot. Du kannst weinen, wenn du
willst,“ sagt sie zum übriggebliebenen Kind.
„Du bist zu klein“, sagt Mutter. Zu klein für die Beerdigung meiner Schwester. Sie bringt mich zu ihrer Freundin, deren Sohn mein Freund ist. In meinem Bauch ist ein Knoten. Wir liegen im Kinderzimmer und schauen das Dschungelbuch. Balu nimmt Mogli in den Arm. „Probiers mal mit Gemütlichkeit“, singt der dicke Bär. Draußen läuten die Glocken. Ganz lange.
Alle zwei Wochen bin ich bei Vater. Der erste Schnee fällt. Aus dem Garten hinter dem Haus dringt lautes Gackern. Barfuß rennt er hinaus. Überall liegen Leichen im Schnee. Die letzte Überlebende hängt dem Fuchs noch aus dem Maul. Er jagt ihn durch die Dunkelheit. Er versteckt sich bei deinen Arbeitsgeräten. Dort steht auch eine Harke. Immer wieder hat er mir eingeschärft, sie richtig anzulehnen. Er treibt sich die Metallspitzen durch seinen Fuß. Der Fuchs lässt das Huhn fallen. Auf allen Vieren kriecht er durch den Schnee zurück ins Haus, das Huhn im Arm, die Harke im Fuß. Einen Moment lang gehören wir zusammen. Er und ich und das Huhn auf meinem Schoß. In triefender Eintracht auf dem Sofa im
Unser Atem gefriert vor unserem Mund zu einem weiß wabernden Wesen. Wir steigen langsam den Berg hinauf. Der Pfad ist so schmal, dass wir hintereinander her gehen müssen. Vaters neue Frau, er und ich. Neben uns rauscht der Wasserfall ins Tal. Das Becken ist noch nicht zugefroren. Der Winter gibt es noch frei. Sie ziehen sich aus. Zwei nackte Leiber im Schnee. Seine Hand ruht auf ihrem Rücken. Sie steigen langsam in das eisige Wasser, tauchen kurz unter. Trocknen ihre zitternden Körper. „Wir bekommen ein Kind,“ sagt sie. „Ich hasse dich!“, sage ich.
Das neue Kind ist da. Es ist winzig und hässlich. Ich nehme es auf den Arm. Irgendwie gierig streckt es seine Hände nach mir aus. Vielleicht finde ich es für einen kurzen Moment schön. Ich bin alleine mit ihm. Seine Mutter ist im Nebenzimmer. Auf dem Boden liegt ein Wollknäuel. Ich beginne bei den Händen. Ich umwickle sie mit dem Faden. Binde sie zusammen. Dann den Körper. Wie eine Spinne wickle ich ihn ein, bis nichts mehr in meinen Händen ist. Das Knäuel zappelt und weint. Ich lasse es auf dem Boden liegen. Sein Kopf kippt nach vorne und knallt an das Bett, das meins war und jetzt seins ist. Es beginnt zu schreien. Die Mutter kommt. Ihre Schreie drängen mich hinaus.
Schlaftrunken taumle ich in die Küche. Im Bett meiner Mutter liegt ein Mann und lächelt mich an. Er hat den Grabstein meiner Schwester geschlagen. Ich füttere ihn mit Weintrauben. Vielleicht bleibt er ja. In den Sommerferien ziehen wir in sein Haus. Der Garten ist größer als Vaters Garten. Wir heben eine Grube für einen neuen Teich aus. Daneben pflanzt Mutter einen jungen Zwergahorn. Die Zinnien blühen. Wie eine Warnung.