Wasser

Auszüge aus meinem Buch "Wasser, Felsen, (Blut)" (2017)

Entlegenes. Abgelegtes. Irgendwann Gesagtes. Weit im Gestern ein kleines Lachen. Ein Wimpernzucken. Eine leicht gehobene Augenbraue. Sich zum Gehen wenden. Hinterhersehen. Im Gegenlicht ist selbst das Weißeste schwarz. Die Augen schließen. Als wäre da niemals etwas gewesen, wenn man sie wieder öffnet.

Ich grabe meine Finger in den sommersatten Boden. Schwelge im Grün, atme Frische. Möchte herumtollen, irre kichern, in Begeisterung zerbersten. Diese widerstreitenden Geister, denen ich gebiete zu schweigen. Sitze nur da, oben Himmel unten Welt, dazwischen Wald und Wiesengrüne. Sich mir verneigende Blütenkobolde, wollen meinen Gedanken lauschen und ich verrate ihnen lachend, im Moment sind keine da, keine Geheimnisse zu ergründen, nichts weiterzuerzählen. Diese wunderbare Leere, diese zwischenzeitlich abgelegte Schwere, nichtssagend aber auch nicht-müssend, im Möglichkeiten-Reigen. Nichts ist eben wichtig. Nichts außer mir, dem Bach zu meinen Füßen, den ungesehenen Augen in den Büschen hinter mir, den Halmen zwischen meinen Händen, den stotternden Felsen. Ja, denke ich. Schaut mich doch an, vielleicht erkennt ihr mich. Ihr müsst mich nicht fürchten, hier draußen sind wir eins.

Der Raum zwischen zwei Tropfen türmt sich auf zu Bergen, Silhouetten. Ergeben liegen sie, die Seen und Teiche im ahnbaren Dunkel neben mir. Es ist die Wiederentdeckung einer alten Stille beim Anblick des Wassers, das in jede Pore, in jede Öffnung dringt. In Ermangelung eines Ursprungs so schutzlos und ohne Bestimmung. Beharrliche Durchdringung, die doch den Zwischenwesen Halt gewährt. Den tauchenden Vögeln, die das Substanzlose untersuchen. Im Aufbegehren gegen die große innere Ruhe fällt unwesentlicher Regen, eine Ahnung nur, der die Oberfläche aufwühlt und einen Summton erzeugt, eine Vibration, die durch den ganzen Körper dringt. Das Innere eingeschlossen, vermengt mit dem großen Nass der rastenden Masse. Außen das Wimmern der Welt.

Reglos erforsche ich das Verborgene hinter geschlossenen Liedern, die Träume einer Abtrünnigen. Erinnerungen gehen nieder wie Gewehrsalven, meine Grundfesten erschütternd. Da stehe ich und greife mit ausgestreckten Armen nach den Wolken. Beschütze mich selbst vor vermummten Greisen in ihrem letzten großen Fall. Lachhaft nah die zärtliche Berührung ihrer Finger, die mir entgegen wuchern. Ich wähne sie tief ins Gespräch versunken, dichte und deute es ihnen an. Verweile im Fehlen jeglicher Empfindung, den fremden Stimmen lauschend.

In der Mitte des Sees. Wasser unter, über, in mir. Überall Wasser. Tausendfache Kälte, in den Moment gebrannt. Meine Hände kleben am Metall. Und ich weiß nicht mehr, sind sie noch da, oder schon abgebrochen, hinabgesunken auf den Grund des Sees, ineinander verkrampft in einer letzten wehmütigen Pose? Im Abschiedsschmerz. In Ausdehnung und Ablehnung. Wasser läuft meinen Rücken hinunter. Ich starre. Starre in die Handvoll Sichtbarkeit. Kälte auf meiner Haut. Sickert in mich hinein, reichert mich an, bin ich noch da oder schon erstarrt, denkende Hülle, ein schwimmender Eisblock, eingeschlossene Universen, bereit sie wieder freizugeben, wenn das Wetter beschließt, mich wieder aufzutauen. Stoße in absoluter Finsternis durch die Bäume, werde überall und dauernd aufgehalten. Folge den Stimmen und dem Feuerschein. Wie abgelenkt ich bin. Wie fokussiert.

Ich liege wach und lausche diesen Atemzügen, ertaste diese fremde Existenz mit meinen Gedanken. Wer bin ich hier, zwischen den unausgesprochenen Zeilen lesend. Wer bist du? Wer seid ihr? Der Untergrund ein einziger Ast. Alles stört. Jede Bewegung, jedes laute und leise Geräusch. Mondhelle zwischen Wolkenfetzen und Eulengesängen. Ich sehne mich nach Schlaf. Wälze mich hin und her in meiner Höhle, werde von der Nacht, von der Schwere meines Körpers, von den Lichtblitzen unter meinen Augenlidern auf den Boden gedrückt. Neben mir ein fremder Mensch, den ich vor einigen Wochen noch nicht kannte, liegt da und windet sich, windet sich wie ich. Hier tragen wir unsere Kämpfe aus, stumm. Im Wurzelnetz liegt das neue Ich, drückt sich mir langsam in die Haut, dringt in mich ein. Ich vergesse langsam wer ich war. Liege im Dunkel begraben. Vielleicht ersticke ich, wenn ich einschlafe. Etwas schnürt mir undeutlich die Kehle zu. Zwischen mir und dir liegen einige tausend Kilometer und ich zeichne ein Gesicht in die Nacht, hier die Erkenntnisstörung. Wer war ich, bevor ich mich hinaus begab zwischen die Bäume, mein neues Ich zu suchen, mein altes zu vergessen, ich weiß es nicht mehr.

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